Vom neoliberalen Modell, das dem Land trotz aller Wirtschaftserfolge hohe Ungleichheit und verbreitete Armut brachte, haben immer mehr ChilenInnen genug.
Um seine kranke Schwester nicht zu stören, trat Manuel Pareda eines Abends vor das kleine Haus in La Legua, einer Armensiedlung Santiagos, und zündete sich eine Zigarette an. Plötzlich spürte er einen harten Schlag am Unterkiefer, ehe er blutüberströmt zu Boden sank. Ihn hatte eine Pistolenkugel getroffen, die bei einem Revierkampf jugendlicher Drogengangster losgegangen war.
In einigen Elendsecken der Hauptstadt Chiles geht es zu wie in manchen brasilianischen Favelas. Drogenbosse nisten sich zwischen der Bevölkerung ein, ihre schwer bewaffneten „Soldaten“ kurven in teuren Geländewagen durch die Siedlung. Kuriere liefern die „Pasta básica“, ein Kokain-Vorprodukt, aus; die Polizei wagt sich kaum noch hinein.
23 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur herrsche in manchen Vierteln die „Diktatur der Narcos“, der Drogengangster, heißt es in einem kürzlich veröffentlichten Bericht des angesehenen Journalistenzentrums „Ciper“. Das sei nicht nur eine Bankrotterklärung der Sicherheitspolitik, sondern auch der Armutsbekämpfung, weil es vielen Menschen so schlecht gehe, dass sie sich zur Kooperation mit Verbrechern drängen lassen.
Nicht alle machen mit. Der schwerverletzte Manuel Pareda, ein 62-jähriger Gärtner, der auch seine Schwester erhalten muss, lehnte vom Täter angebotenes Bargeld ab, wie er einem Reporter sagte.
Ein paar Häuserblocks weiter und schon etwas außerhalb der Gefahrenzone traf ich Jenny und Ela, zwei Frauen mittleren Alters, die mit einigen Nachbarinnen versuchen, aus eigener Kraft der Misere zu entkommen. Ein großer Teil der Armen Chiles sind wie sie alleinerziehende Mütter, für die es in Gegenden wie La Legua keine Jobs gibt. So organisierten sie eine Gemeinschaftsküche, in der sie Mittagsmenüs kochten, die sie den Arbeitern in der Nähe angesiedelter Fabriken preisgünstig anboten. Eines Tages stürmte ein junger, sich verfolgt glaubender Drogenkurier herein und warf ihnen die heiße Ware vor die Füße, ehe er wieder verschwand. Sie ließen das Paket liegen und konnten nur hoffen, dass die Polizei sie nicht als Mittäterinnen betrachtete.
Es ging noch einmal gut und die Frauengruppe entwickelte ihr Projekt weiter. Sie bewarb sich mit Erfolg darum, die Werksküche einer nahen Druckerei zu übernehmen, wo sie nun täglich 130 ArbeiterInnen verköstigen und ein stabiles Einkommen haben. Die umgerechnet 5.000 Euro Startfinanzierung für die Einrichtung der ersten Gemeinschaftsküche kam übrigens aus der Stadt Wien. Die österreichische Soli-Gruppe „Christen für Chile“ hatte sie locker gemacht.
Betreut hatte das Projekt die chilenische NGO „Taller de acción cultural“ (TAC), die in den Armenvierteln Santiagos und auch auf dem Land kleine „Produktionszentren“ initiiert, deren TeilnehmerInnen selbstverwaltet und solidarisch ein Einkommen erarbeiten können. Die NGO war schon während der Militärdiktatur Augusto Pinochets (1973–90) in Vierteln wie La Legua aktiv, wo sie zunächst Theaterprojekte und Alphabetisierungskurse durchführte. Später half sie, Gemeinschaftsküchen für die unter Hunger leidenden Kinder und Kunsthandwerkstätten für die vielen Arbeitslosen zu gründen. Damals waren die „Poblaciones“ hoch politisiert.
„Heute ist alles anders“, erzählte mir die TAC-Aktivistin Verónica Salas. „Die Armen wollen nicht mehr so genannt werden, wo früher hungernde Kinder waren, gibt es jetzt übergewichtige.“ Die „Menschen mit geringem Einkommen“ wurden als KonsumentInnen entdeckt und ohne Formalitäten mit Kreditkarten beglückt. Besonders die Kaufhauskette „La Polar“ tat sich damit hervor, Flachbildfernseher, Kühlschränke oder Smartphones an jedermann auf 48 Monatsraten zu liefern. Als die AbnehmerInnen die Raten nicht zahlen konnten, gab ihnen „La Polar“, ohne nachzufragen, automatisch einen länger laufenden Kredit. Schulden in der Höhe von umgerechnet 150 Euro konnten so rasch auf 1.000 Euro anwachsen. Als Konsumentenanwälte den Skandal auffliegen ließen, stellte sich heraus, dass fast eine halbe Million Menschen in die Schuldenfalle getappt waren.
Auch jetzt noch wird man in Chile selbst in Drogerien und Supermärkten regelmäßig gefragt, ob man in „cuotas“, auf Raten, zahlen möchte. An die 70% aller ChilenInnen sollen verschuldet sein.
Die Regierung präsentiert währenddessen eine Erfolgsmeldung nach der anderen. Im Jahr 2012 wuchs die Wirtschaft um 6%, heuer sollen es 4,6% sein – der höchste Wert aller 34 Mitglieder der OECD, des Klubs wohlhabender Staaten, dem Chile als einziges südamerikanisches Land angehört. Die Arbeitslosenrate liegt bei 6%. Das Bruttonationalprodukt pro Kopf beträgt 18.000 Dollar (13.300 Euro) im Jahr, bis 2018 soll die Armut überwunden und Chile endgültig im Kreis der entwickelten Industrieländer angekommen sein.
Doch als der rechtskonservative Präsident Sebastián Piñera Mitte 2012 einen angeblich neuen Erfolgswert bei der Armutsminderung bejubelte, brach plötzlich von allen Seiten Kritik über ihn herein. ExpertInnen der UNO bezweifelten seine Angabe, dass die Armut seit 2009 von 15,1 auf 14,4% der Bevölkerung (2,5 von 17 Millionen) zurückgegangen sei und kritisierten geänderte Erhebungsmethoden.
Forschungseinrichtungen wie die Fundación Sol begannen, das gesamte Zahlensystem zu zerpflücken. Chiles Hauptproblem sei die enorme Ungleichheit, sagte mir Patricio Durán, Arbeitsökonom in der unabhängigen Stiftung. „Das reichste Fünftel der Bevölkerung erhält 53,4% der Einkommen, das ärmste Fünftel dagegen nur 4,9%.“ Als arm gilt, wer im Monat weniger als 72.098 Pesos (112 Euro) verdient. Der Mindestlohn liegt bei 193.000 Pesos (300 Euro) im Monat; von ihm lebt ein großer Teil der Beschäftigten.
Laut Sol gibt es in Chile Hunderttausende, die zwar einen Job haben, aber dennoch arm sind. Eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern müsste im Monat mehr als 336 Euro verdienen, damit die Familie nicht unter die offizielle Armutsgrenze fällt.
Die Erhebungsmethode sei veraltet und messe zudem nur das Geldeinkommen, sagte mir Leonardo Moreno, Direktor der „Stiftung zur Überwindung der Armut“. Nach dem Wirbel im vergangenen Jahr wurde u.a. diese überparteiliche Institution beauftragt, die Armut in all ihren Dimensionen zu erforschen. Sie reichen von der Wohnsituation über das Gesundheitssystem bis zur Erziehung, aber auch der Möglichkeit zur Teilnahme am kulturellen und politischen Geschehen. Nach diesen Kriterien müsste in Chile ein weit höherer Anteil der Bevölkerung als arm betrachtet werden, meint Moreno. In Santiago wohnen die Armen im Süden, wo es wenig Polizei, schlechte Schulen, lange Wartezeit in den Spitälern und kaum Jobs gibt. Aus diesen „Ghettos“ müssten die Menschen täglich stundenlang in die wohlhabenden Viertel im Osten der Sechs-Millionen-Stadt fahren, wo freie, wenn auch prekäre Arbeitsplätze locken. Das teure, überwiegend private Bildungssystem belastet auch den Mittelstand so sehr, dass es seit zwei Jahren in ganz Chile eine Welle von Massendemos gibt, die von Studierenden angeführt werden, aber die Unterstützung eines Großteils der Bevölkerung haben.
Dazu kam in jüngster Zeit ein gewaltsamer Konflikt mit Angehörigen des indigenen Mapuche-Volks, das im Süden des Landes für die Rückgabe seiner Territorien kämpft. Viele ChilenInnen fordern nun einen gerechteren Staat und am besten überhaupt eine neue Verfassung anstelle der geltenden, 1982 unter Pinochet geschriebenen. Den traditionellen Parteien wird immer weniger getraut. Bei den Gemeinderatswahlen im vergangenen Oktober blieb mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten zuhause.
Es gab allerdings Ausnahmen: In Providencia, einer von liberalen BürgerInnen, KünstlerInnen und Intellektuellen bewohnten Kommune von Santiago, bewarb sich Josefa Errázuriz, eine parteiunabhängige Soziologin, mit Erfolg um das Bürgermeisteramt. Sie wurde von einer bunten Basisbewegung unterstützt, die von fortschrittlichen Christdemokraten und Sozialisten bis zu Grünen und Kommunisten reichte. Sie machte klar, dass sie in Providencia mit dem Aufbau eines anderen Chile beginnen wolle, das vielfältiger und sozial gerechter ist.
Als Errázuriz am Wahlabend einen Gratulationsanruf der Sozialistin Michelle Bachelet erhielt, erlebte Chiles Präsidentin von 2006 – 2010 eine Überraschung. Bachelet wird wohl heuer wieder gegen einen Kandidaten der Rechten um die Präsidentschaft antreten. Zu ihren Unterstützern könnten dieses Mal neben den Parteiorganisationen der Christ- und Sozialdemokraten auch Kommunisten zählen. Josefa Errázuriz warnte aber, dass Bachelet nicht automatisch mit der Unterstützung ihrer neuen und wachsenden Basisbewegung rechnen könne. Dafür sei zuerst ein Regierungsprogramm für ein gerechteres Chile nötig, kein Weitermachen wie bisher.
Erhard Stackl ist Journalist und verbrachte einen mehrmonatigen Forschungsaufenthalt in Chile.
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